Peter Gabriel: i/o – die Story zum Album

Peter Gabriel by Nadav Kander

Monat für Monat stellte der Art-Rock-Magier Peter Gabriel einen neuen Song vor. Jetzt ist das Gesamtkunstwerk „i/o“ zu besichtigen. Hält es dem Brimborium stand?

von Werner Herpell

Es ist ein bisschen schade, dass viele Kritiker und Fans beim neuen Album von Peter Gabriel nun zuerst über die seltsame Form seiner Veröffentlichung räsonnieren werden. Aber das hat sich der Großmeister des massentauglichen Art-Rock selbst eingebrockt. Indem Gabriel die zwölf Songs von „i/o“ in je zwei (nicht allzu unterschiedlichen) Stereo-Mixes innerhalb eines Jahres häppchenweise – genau genommen an den Mondphasen orientiert – über Musikplattformen und zum kostenpflichtigen Download via Bandcamp zur Verfügung stellte. Eine originelle, leicht esoterische Idee – aber auch eine gute?

Die ganz große „i/o“-Überraschung fehlt

Wer von einem neuen Album die Wucht der Überraschung erwartet, die knisternde Spannung vor dem ersten Hören bisher gänzlich

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unbekannter Lieder, das faszinierende Momentum eines künftigen Pop-Klassikers – der wird sich durch das Brimborium bei „i/o“ (vorausgesetzt, er/sie ist Gabriel-Kenner und -Verehrer, der/die seinen akustischen Spuren auch im Netz immer treu folgt) ausgebremst fühlen. Denn so sehr man dann versucht, diesem Dutzend Songs ohne Vorwissen und ohne bereits vorhandene Vertrautheit zu begegnen – es wird kaum noch gelingen.

Insofern (und nur insofern) ist „i/o“ nun eine Ernüchterung. Glücklich also, wer dem Soloalbum (immerhin dem ersten der einstigen Genesis-Ikone mit neuem Material seit „Up“ vor gut 20 Jahren) ab diesem Freitag mit offenen, unvoreingenommenen Ohren lauschen kann.

Peter Gabriel: Stolz auf ein starkes Spätwerk

„Nach einem Jahr der Vollmond-Veröffentlichungen bin ich sehr glücklich, all diese neuen Songs jetzt zusammen auf dem guten Schiff ‚i/o‘ zu sehen, bereit für ihre Reise hinaus in die Welt“ – so beschreibt der inzwischen fast 74-jährige englische Sänger, Songwriter, Komponist und Multiinstrumentalist seine Gefühle für das Album. Und Gabriel hat ja auch allen Grund, große Hoffnungen zu setzen und stolz zu sein auf dieses Spätwerk, das viele Fans nach langer Pause (gar Flaute?) von ihrem Helden kaum noch erwartet hatten.

Denn „i/o“ ist, das muss man bei aller Skepsis über seine zerstückelte Präsentation zugestehen, eine tolle Platte – vermutlich Gabriels zugänglichste seit dem kommerziell äußerst erfolgreichen Doppelschlag mit dem eine Pop-Ära definierenden Super-Album „So“ (1986) und dem kaum schwächeren „Us“ (1992). Nicht umsonst riskierte der rundlich gewordene, an einen unantastbar souveränen Buddha erinnernde Musiker bei seinen Europa-Konzerten in diesem Mai/Juni irritierte Publikumsreaktionen, als er mit seiner fantastischen Live-Band zehn der damals noch fast völlig unbekannten „i/o“-Lieder aufführte. Nach dem Motto: Schaut her, so kreativ bin ich immer noch, das will ich euch jetzt unbedingt beweisen – die Hits „Sledgehammer“, „Solsbury Hill“ oder „Don’t Give Up“ könnt ihr dann später noch hören.

Sensationelle Band-Besetzung

Peter Gabriel I/O Cover Virgin Music

Denn nach den eher rückbezüglichen Alben „Scratch My Back“/“And I’ll Scratch Yours“ (2010/2013) und dem orchestralen Best-of-Werk „New Blood“ (2011) war ja lange Funkstille bei Gabriel. Bis er vor ziemlich genau einem Jahr überraschend „i/o“ inklusive großer Tournee ankündigte – eine der am meisten herbeigesehnten Platten des Jahres 2023 stand von da an für ein noch unbekanntes VÖ-Datum im Fan-Kalender. Am 6. Januar wurde „Panopticom“ herausgebracht. Ein solider, wenn auch nicht herausragender Start, aber mit einer erwartbar sensationellen Band-Besetzung in „So“/“Us“-Tradition, von Manu Katché an den Drums über Tony Levin am Bass bis zu Gitarrist David Rhodes – und Brian Eno an den Keys.

Fortan wurde Monat für Monat jeder neue Song mit so einfühlsamen wie erhellenden Worten Peter Gabriels und einem eigenen Artwork vorgestellt – Kunst war hier so groß geschrieben, dass man es auch als prätentiös empfinden konnte. Aber die Lieder wurden zum Glück immer besser, die Melodien komplexer, die Texte berührender. Die an das unfassbar schöne „Don’t Give Up“ von 1986 (seinerzeit im Duett Peter Gabriel/Kate Bush) erinnernde Ballade „Playing For Time“ war im März wohl das erste grandiose Highlight. Später begeisterten diesen Reviewer (und Gabriel-Aficionado) insbesondere der Titelsong (hymnisch und poppig), „Road To Joy“ (funky und tanzbar), „So Much“ und „And Still“ (zwei nachdenkliche Piano-Elegien) sowie „Love Can Heal“ (ätherisch und bittersüß). Stets waren die Arrangements vom Feinsten, die erlesenen Musiker auf Top-Niveau, die einmalige Stimme des 73-jährigen Sängers ausgeruht und kraftvoll.

Ein zutiefst empathischer Schlusspunkt

Der sinfonisch aufgeladene Afropop-Gospel-Mix „Live And Let Live“ setzte Ende November den emotionalen, zutiefst empathischen Schlusspunkt mit Verweisen auf Friedensmänner wie Martin Luther King und Desmond Tutu: „Lay the burden down/lay the weapons down/it takes courage/to learn to forgive“. Wann, wenn nicht jetzt braucht es solche Musik, mag der versöhnliche Text in vielen Ohren derzeit angesichts von Kriegen und Krisen auch naiv klingen.

Die Verbindung jedes Einzelnen mit der Welt um ihn/sie herum („I’m just a part of everything“, so der Tenor des Songs „i/o“), das Vergehen der Zeit, Trauer und Sterblichkeit, Erschütterung über den Zustand unserer Welt und die furchtbaren Dinge, die in ihr passieren: Es wäre nicht der große Pop-Philosoph Peter Gabriel, wenn hier nicht zu schönen Harmonien die ganz wichtigen Themen aufgerufen würden.

Zwölf Lego-Teile von Peter Gabriel

Mit „Live And Let Live“ und dem vollen „i/o“-Paket auf CD und Vinyl (maximal 24 Stücke als Bright-Side-Mix von Mark „Spike“ Stent und Dark-Side-Mix von Tchad Blake; der In-Side-Mix in Dolby Atmos von Hans-Martin Buff ist im 3-Disc-Set als Bluray enthalten) endet ein Jahr voller Peter-Gabriel-Songjuwelen – wenngleich (siehe oben) ohne den ganz lauten Knalleffekt. Vielleicht kann man es aber auch anders sehen – so wie es auf Bandcamp nachzulesen ist: „Jedes Stück durfte seine eigene Zeit und seinen eigenen Raum finden, sein Umfeld genießen“, heißt es dort. Zitat Peter Gabriel: „It’s a little like getting a Lego piece each month.“ Nun sei die Zeit, das Gesamtwerk zu betrachten. Aber gerne doch.

Das Album „i/o“ von Peter Gabriel erscheint am 01.12.2023 bei Virgin Music. (Beitragsbild von Nadav Kander)

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